
1. Einleitung – Ein unerwarteter Trend.
Die Generation Z – geboren zwischen Mitte der 1990er- und Anfang der 2010er-Jahre – ist mit einer nie dagewesenen Offenheit für sexuelle Vielfalt, Identität und Beziehungsformen aufgewachsen. Gleichzeitig zeigen aktuelle Studien: Die sexuelle Aktivität junger Erwachsener ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.
Weniger Sex, obwohl die Gesellschaft liberaler erscheint – wie passt das zusammen?
Die Antwort ist komplex: Sie reicht von digitaler Mediennutzung und verändertem Dating-Verhalten über steigende psychische Belastungen bis hin zu einer neuen Definition von Intimität.
In der Psychotherapie zeigt sich dieser Trend immer häufiger – als Thema in Einzelsitzungen, in Paarberatungen und in der sexualtherapeutischen Arbeit.
2. Zahlen und Fakten
Laut einer Analyse des Bundeszentrums für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und internationaler Studien ist der Anteil junger Erwachsener, die in den letzten zwölf Monaten keinen sexuellen Kontakt hatten, deutlich gestiegen.
Beispielsweise zeigen US-Daten der General Social Survey:
Unter Männern zwischen 18 und 24 Jahren hat sich der Anteil ohne sexuelle Aktivität seit 2008 verdreifacht.
Auch bei jungen Frauen ist der Anstieg spürbar, wenn auch weniger drastisch.
Der Trend ist auch in Europa sichtbar – mit kulturellen Unterschieden, aber ähnlichen Mustern: weniger häufige sexuelle Kontakte, späterer Beginn und längere Phasen ohne Partnerschaft.
3. Digitale Nähe, analoge Distanz
Ein zentraler Faktor: Digitalisierung. Dating-Apps, soziale Netzwerke und ständige Erreichbarkeit verändern die Dynamik von Kennenlernen und Beziehungspflege.
Viele junge Menschen investieren mehr Zeit in digitale Kommunikation als in persönliche Begegnungen – was zwar soziale Kontakte erhält, aber körperliche Nähe reduziert.
In der Praxis berichten Klient:innen häufig:
„Ich chatte lieber, als mich zu treffen – da fühle ich mich sicherer.“
„Echte Dates sind mir oft zu anstrengend, ich habe Angst, die Erwartungen nicht zu erfüllen.“
Diese digitale Komfortzone senkt die Hemmschwelle für Kontaktaufnahme – aber erhöht die Hürde für Intimität im echten Leben.
4. Leistungsdruck und Selbstbild
Soziale Medien präsentieren täglich idealisierte Körper, scheinbar perfekte Beziehungen und eine Sexualität, die immer verfügbar, spontan und leidenschaftlich ist.
Für die Generation Z kann dies zu einem erheblichen Leistungsdruck führen:
Der eigene Körper wird ständig mit bearbeiteten Bildern verglichen.
Sex wird oft als „Performance“ betrachtet, nicht als gemeinsames Erleben.
Die Angst, nicht attraktiv oder „gut genug“ zu sein, hemmt das sexuelle Selbstvertrauen.
Therapeutisch bedeutet das: Sexualität muss entkoppelt werden von Vergleichen und Bewertung – hin zu Selbstannahme und authentischer Erfahrung.
5. Psychische Belastungen und Sexualität
Die Generation Z ist psychisch stärker belastet als viele vorherige Generationen. Depressionen, Angststörungen und chronischer Stress nehmen zu – und wirken sich direkt auf Libido und sexuelle Aktivität aus.
Biologische Faktoren (z. B. veränderte Hormonspiegel durch Stress) und psychische Mechanismen (z. B. Vermeidung unangenehmer Situationen) verstärken den Rückzug.
In der Psychotherapie wird Sexualität oft erst thematisiert, wenn die psychische Grundstabilität wieder wächst – und selbst dann nur behutsam.
6. Wertewandel: Intimität neu definieren
Für viele junge Menschen steht Sexualität heute nicht mehr automatisch im Zentrum einer Beziehung.
Emotionaler Support, geteilte Werte und persönliche Freiheiten werden oft höher gewichtet als sexuelle Kompatibilität.
Asexuelle und demisexuelle Identitäten werden sichtbarer und gesellschaftlich akzeptierter.
„Slow Dating“ und bewusst längere Kennenlernphasen sind verbreiteter.
Das zeigt: Weniger Sex bedeutet nicht automatisch weniger Nähe – sondern manchmal nur, dass Nähe anders gelebt wird.
7. Was die Psychotherapie leisten kann
Therapie bietet einen geschützten Raum, um über Scham, Unsicherheiten und Erwartungen zu sprechen.
Ansätze, die sich bewährt haben:
Sensate Focus (Schritt-für-Schritt-Aufbau körperlicher Nähe ohne Leistungsdruck)
Achtsamkeitsübungen zur Reduktion von Gedankenkreisen und Zukunftsängsten
Körperarbeit zur Stärkung der Selbstwahrnehmung
Psychoedukation über Vielfalt sexueller Bedürfnisse
Therapeut:innen arbeiten dabei oft interdisziplinär – mit Sexualpädagog:innen, Ärzt:innen und Paarberater:innen.
8. Grenzen zwischen Problem und Entscheidung
Nicht jede sexuelle Inaktivität ist behandlungsbedürftig. Manche junge Erwachsene wählen bewusst Enthaltsamkeit – aus spirituellen, persönlichen oder gesundheitlichen Gründen.
Wichtig ist, zu unterscheiden:
Selbstbestimmte Abstinenz → kein therapeutischer Handlungsbedarf
Unfreiwillige Inaktivität durch Angst, Scham oder mangelndes Selbstwertgefühl → möglicher Ansatzpunkt für Therapie
9. Gesellschaftliche Veränderungen als Hintergrund
Die letzten 15 Jahre brachten massive Veränderungen, die das intime Leben prägen:
Digitalisierung und ständige Vergleichsmöglichkeiten
Wandel der Rollenbilder und neue Familienmodelle
Ökonomische Unsicherheit, die langfristige Bindungen erschwert
Diese Dauerbelastung senkt die emotionale und körperliche Energie, Nähe zuzulassen.
10. Aufklärung und Überforderung
Die Informationsfülle zu Sexualität ist Fluch und Segen zugleich. Junge Menschen sind bestens informiert – und gleichzeitig verunsichert, ob sie den (oft unrealistischen) Erwartungen entsprechen.
Psychotherapie kann helfen, diese Informationsflut zu filtern und auf die persönliche Realität herunterzubrechen.
11. Fallbeispiel
Ein 24-jähriger Klient berichtet, seit Monaten keinen Sex mehr mit seiner Partnerin zu haben. Beide verbringen Zeit miteinander – aber meist vor Bildschirmen. In der Therapie lernen sie, digitale Routinen zu unterbrechen und analoge Nähe neu zu entdecken.
12. Sexualität und Identität online
Likes und Follower ersetzen keine echte Intimität – können aber das Selbstbild stark prägen. Wer sich nur über digitale Resonanz definiert, meidet oft reale Begegnungen aus Angst, nicht zu genügen.
Therapie arbeitet hier an alternativen Identitätsquellen und Selbstakzeptanz.
13. Psychische Gesundheit als Schlüssel
Viele Therapieprozesse zeigen: Wenn Depressionen, Angst oder Stress abnehmen, steigt oft auch das Interesse an körperlicher Nähe – ganz ohne direkten Fokus auf Sexualität.
14. Ressourcenorientierte Sexualtherapie
Methoden wie Sensate Focus, Achtsamkeit, Körperarbeit und Psychoedukation können jungen Erwachsenen helfen, Sexualität wieder positiv zu erleben – ohne Druck, sondern als Möglichkeit.
15. Bewusste Abstinenz
Abstinenz kann gesund sein – solange sie eine freie Entscheidung ist und nicht aus Angst oder Scham resultiert.
16. Fazit
Die Diskussion um sexuelle Aktivität in der Generation Z ist komplex. Weniger Sex muss nicht weniger Nähe bedeuten – wenn Menschen ihre eigenen Bedürfnisse kennen und leben können. Psychotherapie kann helfen, Selbstwert, Beziehungskompetenz und emotionale Sicherheit so zu stärken, dass Sexualität wieder als natürlicher, selbstbestimmter Teil des Lebens empfunden wird.
Externe Fachinformationen
Buchempfehlungen
Elisabeth Tuider & Stefan Timmermanns: Sexualität und soziale Medien – Intimität im digitalen Zeitalter (Beltz Juventa, 2020)
Ulrich Clement: Lust und Liebe in Zeiten von Tinder – Sexualität zwischen Selbstverwirklichung und Beziehungsarbeit(Klett-Cotta, 2019)
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